Unsere Reisen

Chile

Albatrosse, Minkwale und der Ruf der Wildnis

Das Ende der Welt ist sein zweites Zuhause, niemand kennt die Winde und Stürme im tiefen Süden Feuerlands besser als er: Über hundertmal hat Osvaldo Torres das berüchtigtste Kap der Welt selbst umrundet. Heute nimmt er Gäste und Forscher mit, um das Reich der Gletscher und Wale auf eigenem Kiel zu erkunden.
Straßenschild mit der Ortsangabe „Puerto Williams“ am Wasser

Die letzte Kneipe vor Kap Hoorn hat an diesem Abend geschlossen. Die Segler und die Marineros haben gerade anderes zu tun, als sich ein kaltes Bier zu genehmigen. In der Nacht soll Sturm kommen, 80 Knoten aus Südwest. Das ist mehr als Orkan. Die übliche Hölle hier unten am Fin del Mundo, am Ende der Welt.

„Eine typische Wetterlage“, sagt Osvaldo Torres. „Ein Tiefdruckgebiet jagt das nächste.“ Torres trägt eine grüne Daunenjacke mit großer Kapuze. Wenn nötig, kann er seinen Kopf darin verstecken wie in einer warmen Höhle.

Torres kennt sich aus mit den Winden, mit den Wellen, mit der Einsamkeit. Er kennt die Felsen hier unten, das Land, auf dem weiter südlich keine Häuser mehr stehen und keine Straße mehr existiert. Er kennt die Albatrosse, die Wale. Und er weiß: Hier am Beagle-Kanal geht es noch. Noch weiter unten jedoch, am südlichsten Kap der Welt, soll es mit weit über 100 Knoten blasen. Windstärke 16.

Die Männer und Frauen im südlichsten Yachthafen der Welt bringen Leinen aus, vertäuen ihre Schiffe doppelt und dreifach, damit über Nacht alles hält. Oben am Hang beginnen die Laternen zu zittern, ein erster Regenschauer marschiert durchs Dorf. Puerto Williams ist der südlichste Ort der Welt und in erster Linie ein Stützpunkt der chilenischen Marine. Zwei Supermärkte gibt es hier, zwei Restaurants, eine Handvoll Pensionen für weitgereiste Trekkingtouristen. Ansonsten: nur ein paar windschiefe Häuser.

Segelboote liegen in einem kleinen Hafen vor bewaldeten Hügeln
Weiße Berge und blaue Buchten, der Himmel ein Gemälde aus Wolken. Die vom Wind zerfetzte Schönheit Feuerlands ist zur Saga geworden.
Luftaufnahme eines Bergmassivs mit ausgedehntem Gletscher

Jetzt folgen und keine Reise verpassen

Jetzt folgen und keine Reise verpassen     

Rostiges Schiffswrack ragt aus dem Meer vor einem Segelboot

Dies ist die Region Magallanes, Provinz Cabo de Hornos. Nur 60 Seemeilen südlich liegt jener Felsen im Meer, der zum Mythos geworden ist, zum Schauplatz unzähliger Untergangsgeschichten: Kap Hoorn. Der Mount Everest der Seefahrt. Der berühmteste Schiffsfriedhof der Welt.

Über zwanzig Flugstunden muss in Kauf nehmen, wer aus den gemäßigten Breiten Deutschlands hierherreisen will. An die Südspitze Südamerikas, wo jenseits von Patagonien nur noch ein paar Brocken Erde in den fünf Grad kalten Ozean ragen. Kormorane fliegen im Wind, durch den Beagle-Kanal ziehen Orcas und Buckelwale. Gegenüber erheben sich die Berge Argentiniens. Flanken voller Eis und Schnee.

Früher kämpften Klipper und Windjammern wochenlang im Sturm, um das Kap zu umrunden. Gut 800 Schiffe sollen im Laufe der Jahrhunderte hier gesunken, an die 10.000 Seeleute ertrunken sein. Charles Darwin hat einmal über die Kapregion gesagt: „Selbst der Teufel würde in dieser Hölle erfrieren.“

Der nächste Morgen. Böen reißen an den Bäumen, über die Bucht vor Puerto Williams fliegt das Weißwasser. Osvaldo Torres sitzt im Salon eines alten Dampfers, der in der Flussmündung als letzter Posten vor dem Kap dient. Die Micalvi ist der letzte Anleger vor dem Polarmeer. Osvaldo Torres blättert in einem Stapel Karten von Kap Hoorn. Seine Augen wandern über Gletscher und Fjorde, über die wilden Seereviere zwischen Punta Yamana und Bahía Desolada.

Er macht nicht viele Worte. Alle kennen ihn hier. Niemand ist öfter um das sagenumwobene Ende der Welt gesegelt als er. Inzwischen sind es 114 Umrundungen. Seinen Spitznamen trägt er aus gutem Grund: Mister Kap Hoorn.

Ein Mann studiert Seekarten in einer hölzernen Schiffskajüte
Torres begreift diese herbe Ecke des Globus nicht als Rekordziel oder Superlativ – sondern als Refugium der Freiheit.
Zwei Männer heben Reisekoffer der Lufthansa Aluminium Collection an Bord einer Segelyacht

Über fünf Schiffe muss klettern, wer auf die Goya III gelangen will, das Segelschiff von Osvaldo Torres. Eine 16 Meter lange Yacht, gebaut aus hochfestem Fiberglas. Torres steigt an Bord, springt über die Backskisten ins Cockpit.

Bis zu sechs Passagiere kann Torres an Bord nehmen. Gäste aus aller Welt, die einmal hier unten in der Region von Kap Hoorn segeln und die ehrfurchtgebietende Natur mit eigenen Augen sehen wollen. Darunter Segler und Nichtsegler, Forscher und Filmteams, abenteuerlustige Menschen, denen das Ende der Welt als entrücktes Traumziel gilt.

In fünf Tagen wird ein spanischer Ozeanograph an Bord kommen, der die chilenischen Gletscher im Westen des Beagle-Kanals anlaufen möchte. Für Torres sind diese Törns einerseits Auftragsreisen. Vor allem jedoch sind sie ihm eine Herzensangelegenheit. Denn Torres hat sich schon als kleiner Junge in Kap Hoorn verliebt.

Hunderte Kormorane sitzen auf Felsen vor Bergkulisse

Jetzt folgen und keine Reise verpassen

Jetzt folgen und keine Reise verpassen     

Zwei Personen stehen bei Sonnenuntergang vor Steuerrad auf einer Segelyacht

Für ihn stand das Ende der Welt für einen neuen Anfang. Für die Chance, sich eigene Horizonte im Leben abzustecken. Auch darum nennen sie ihn Mister Kap Hoorn. Weil Torres diese wilde Ecke des Globus nicht als Rekordziel oder Superlativ begreift – sondern als Refugium der Freiheit.

Der Fin del Mundo, die menschenleere Weite im tiefsten Süden Chiles, ist nicht nur die Landschaft seiner Sehnsüchte. Sie ist die Entsprechung seines mutigen und abenteuerlichen Lebenswegs.

Torres erzählt von Schwertwalen und Minkwalen, als er seine Yacht vorbereitet. Draußen brüllt der Wind. Regen, Schauer, Graupel, Sonne, Wolken. Oder wie die Einheimischen sagen: „Wenn du das Wetter bei uns nicht magst, dann warte fünf Minuten.“

Torres liebt sie, diese große, kalte Einsamkeit. Das Land und das Meer waren einst seine Rettung, auch wenn er es damals noch nicht wusste. Doch so geschah es. Die Geschichten von Kap Hoorn, diese ganze vom Wind zerfetzte Schönheit am Ende der Welt – für Osvaldo Torres wurde diese Saga nicht nur zur Versuchung, sie wurde zu seinem Rettungsanker in einer schicksalhaften Jugend.

Osvaldo Torres wurde in einem Bergdorf der Anden groß. Seine Eltern waren mit den Kindern vor der Diktatur der Pinochet-Ära dorthin geflohen. Im Land wurde gefoltert, gemordet. Unzählige Menschen verschwanden in jenen dunklen Jahren, wurden zu Desaparecidos.

Der kleine Torres, früher dünn wie Spaghetti, verbrachte seine Jugend notgedrungen in der Nähe von Huépil, einem winzigen Dorf am Fuße des verschneiten Antuco-Vulkans. Eine arme und karge Region, die der Familie als Unterschlupf diente. Hirten lebten hier, viele der Kinder hatten noch nie ein Auto gesehen. Doch eines stand für den jungen Torres schon früh fest: Er wollte kein Bauer werden, wollte sein Leben nicht den archaischen Strukturen der chilenischen Anden unterordnen.

Ein Mann sitzt in einem Schlauchboot auf stillem Wasser
Ein Mann steht am Steuerrad einer Segelyacht mit chilenischer Flagge

Der Junge träumt. Und schafft es tatsächlich, später aus diesem Leben auszubrechen. Sein Erdkundelehrer gibt ihm Bücher, Literatur, Landkarten. Torres hört das erste Mal von Kap Hoorn. Von all den sagenhaften Geschichten, die sich um das Ende der Welt ranken.

Er ist 14, als er sich bei der Marine bewirbt und die beinharte Ausbildung antritt. Er wird zum jüngsten Matrosen der chilenischen Marine. Der Rest ist Geschichte. Eine außerordentliche Biografie. Der Weg vom verbannten Bergjungen zu jenem Mann, der mit allen Wassern gewaschen ist.

Torres besteht die Schule der Armada de Chile. Eisbäder am Morgen, täglicher Drill auf dem Appellplatz. Bald kreuzt er auf einer Fregatte durch den Pazifik, wird zum dekorierten Funker und besteht weitere Tests mit Bestnote. Der Weg steht ihm danach offen. Torres darf sich einen Posten aussuchen.

Sie nennen ihn Mister Kap Hoorn. Er macht nicht viele Worte. Alle kennen ihn hier. Niemand ist öfter um den Fin del Mundo gesegelt.

Und dann lässt er sich versetzen: freiwillig nach Kap Hoorn. Als Leuchtturmwärter lebt er zwei Jahre mutterseelenallein in der rauen Natur. Er muss Regen auffangen. Essen kommt per Helikopter, Strom liefert ein Generator. Doch Torres ist glücklich in der einsamen Welt. Er findet eine Wildnis vor, die seinen jugendlichen Träumen entspricht.

Immer besser lernt er die Region Magallanes kennen. Den Beagle-Kanal, die windgepeitschten Bergrücken der Isla Wollaston. Am Ende bleibt Torres nicht nur zwei Jahre – er wird diesem magischen Ort für immer treu bleiben. Erst bei der Marine, dann als Leuchtturmwärter, später als Skipper – und schließlich als Kapitän seiner eigenen Yacht, die er sich im Laufe der Jahre hart erarbeitet.

Eine enorme Biografie. Nichts für schwache Nerven.

Eine weiße Segelyacht mit gesetzten Segeln fährt durch eine ruhige Bucht
Ein Mann studiert Wetterkarten auf einem Display in Kabine bei Dämmerung

Torres schließt die Luke zum Niedergang und steigt in den Salon seiner Goya III hinab. Draußen geht ein Schauer nieder, die chilenische Flagge am Heck rast im Wind. „Nur eine Bö“, sagt Torres. „Nichts Ernstes.“ Seit über 25 Jahren besegelt er nunmehr die Seegebiete um das berühmteste Kap der Welt. Leitet Expeditionen, nimmt Crews aus aller Welt mit. Ein weiter Weg. Die Flucht, die Berge. Der Ausbruch, die See.

Die ganze Nacht könnte er erzählen. Von Yachten, die im Orkan driften und verloren sind. Von türkisen Eisbergen, von blauen Buchten und Ankerplätzen, wo morgens die Pinguine im Wind stehen und sich zu Hunderten wärmen.

Dann begibt sich Mister Kap Hoorn auf seine Koje, wirft vorher noch einen schnellen Blick auf den letzten Wetterbericht. 40 Knoten aus West, tagsüber auffrischend. „Wenn wir morgen loswollen, müssen wir sehr früh aufstehen“, sagt er noch. „Sonst wird es ungemütlich.“

Zaudern ist hier draußen keine gute Sache. Unentschlossenheit keine Wahl. Und eines hat Osvaldo Torres gelernt, vom Wind und nicht nur von ihm. Man weiß im Leben nie, was kommt.

Steile weiße Felsklippen am Meer vor bewaldeten Hügeln und Bergen
Marc Bielefeld
Marc Bielefeld
Autor
Vom Ballon in die Wüste, aufs Meer, ins Eis: In packenden Reportagen und Podcasts beschreibt der Autor faszinierende Reisen und trifft auf außergewöhnliche Menschen.
(Der Link wird in einem neuen Fenster geöffnet)
Jens Görlich
Jens Görlich
Fotograf
Große Momente, stilles Glück, bewegende Szenen: Der Fotograf aus Frankfurt ist mit seiner Kamera hautnah dabei und fängt ein, was Worte nicht sagen können.
(Der Link wird in einem neuen Fenster geöffnet)
Lufthansa Aluminium Collection
Lufthansa
Aluminium Collection

Reisebegleiter
Am Ende der Welt musste sich der Koffer im Sturm beweisen und mit „Mister Kap Hoorn“ in See stechen. Kein Problem. Dank seines robusten Designs war ihm keine Welle zu hoch.

Entdecken Sie die Welt mit uns

Entdecken Sie die Welt mit uns